Geschichte - Arbeitsweg III
Nach einer meistens, ereignislosen Fahrt und 50 Seiten im jeweiligen, aktuellen Buch weiter, kann das dritte Spiel des Tages beginnen, wenn der Zug in den Bahnhof eingefahren ist.
Miss S-Bahn-Treppe:
Nachdem die S-Bahn angehalten hat, strömen die Menschen hastig zur einzigen Treppe auf dem Bahnhof. Diese führt in eine Fußgängerunterführung hinab, die sich nach links und rechts verzweigt. Mein Weg geht immer nach links, zu einer weiteren Treppe, auf der ich schließlich wieder zur Oberfläche gelange. Um mir die Zeit des Treppensteigens zu verkürzen, spiele ich hier immer das Miss S-Bahn-Treppen-Spiel. Es geht um die schönste Frau, die vor mir läuft. Sie muss nicht unbedingt die schönsten Beine oder den hübschesten Po haben, darauf kommt es nicht so sehr an. Wichtiger ist, wie ich mir ihr Gesicht anhand der Frisur vorstelle, wie ihr Gang ist, wie sie ihre Arme bewegt, mit welchem Tempo sie die Treppenstufen herab schreitet. Eben all die Kleinigkeiten, die einen Menschen ausmachen, fernab der Modell- und Castingwelt. Die Entscheidung muss auch schnell gefällt werden, da die Treppen nicht besonders lang sind. Was mich wundert ist, dass ich bisher nie dieselbe Frau zweimal zur Miss-Treppe gewählt habe. Oft frage ich mich, was die betreffende Schönheit zu meiner Wahl sagen würde, aber angesprochen habe ich noch keine. Nachdem ich meiner Frau von diesem Spiel erzählte, beschimpfte sie mich als sexistisch, so dass ich ab da auch die Männer beurteile, was mir aber nicht sehr schwer fällt, wenn ich meine eigene Figur als Maßstab verwende.
„Der Mensch spielt nur, wo er in voller Bedeutung des Wortes Mensch ist, und er ist nur da ganz Mensch, wo er spielt.“ (Friedrich von Schiller)