Geschichte - Gedankenwellen




(Empfehlung zur musikalischen Lesebegleitung)


Gedankenwellen


Schon wieder dieses komische Gefühl. Verdammt wieder diese drückende Last.
Wann war das zuletzt passiert? Vorgestern beim Mittag, genau, das war genauso ein Gefühl wie jetzt. Gertrud hat auch gleich wieder so geguckt. Sie ahnt bestimmt etwas. Ob sie meine Besuche bei Dr. Brügeler mitbekommen hat? Verdammt, wie soll ich ihr das schonend beibringen?

“Hast Du noch Hunger, Liebling?"

Sie ist so lieb. Ich hab sie nicht verdient, wenn ich daran denke, wie wir uns kennengelernt haben, damals auf Sardinien. An unserem Strand. Das schöne Hotel, was ist das lange her.

“Hörst Du mich, ich habe dich was gefragt, ob Du etwas essen möchtest. Es ist noch Aufschnitt da und etwas Kartoffelsalat.”

Beides lecker. Aber keine Vitamine. Ich sollte mal wieder eine Packung in der Apotheke kaufen. Vitaminmangel, noch so ein Punkt auf der Liste. Aufschnitt, lecker, Kartoffelsalat, lecker, das pampige Zeug. Wer weiß, vielleicht ist es ja die falsche Ernährung. Ach was soll es, kommt ja jetzt auch nicht mehr darauf an.

“Den Kartoffelsalat würde ich nehmen, aber ich gehe gleich und hole ihn mir selbst.”

Durchatmen, ich kann auf keinen Fall aufstehen, geschweige denn rumlaufen. Los streng Dich an, Zeit gewinnen. Ein Plan, für alles einen Plan. Der Urlaubsplan. Ob sich dieses Jahr die Hochzeitsreise vielleicht noch einmal wieder holen ließe? Was ist bloß mit mir los? Das hört ja überhaupt nicht mehr auf? Ok, jetzt zum Klo, Gesicht mit kaltem Wasser abschrubben und in die Küche.

“Ich gehe noch aufs Klo, brauchst nicht zu warten, der Film fängt auch ohne mich an.”

 “Du und Deine Blase, lass Dich bloß mal durchchecken, Du siehst ja so blaß aus.”

“Ach lass mal, war ein harter Tag, muss erst mal zur Ruhe kommen.”

Voll ins Schwarze meine Gertrudchen, Tumor, war das jetzt lateinisch oder griechisch, ach egal Krebs, warum nennt man das Krebs? Jetzt fängt es wieder an zu kribbeln. Reiß dich am Riemen. Zähne zusammenbeißen und hoch. Oh Gott, mir wird schwarz vor Augen. Festhalten, abstützen, meine Beine, das gibt es doch nicht, wie Gummi. Hans, Inge, Gertrudchen. Verdammt die kaputte Diele muss noch ausgewechselt werden.

 “Herr Wagner! Können sie mich hören? Hallo! Hören sie mich?”

Was soll das denn? Aufhören, loslassen, was, wer sind sie. Oh Gott. Wo bin ich hier?

“Herr Wagner, können sie mich hören?"

Ob ich Dich hören kann? Was für eine Frage? Natürlich Du schreist ja laut genug. Ich kann nicht sprechen, Hilfe, meine Arme, wann, vorhin? Wo ist Gertrud? Bringen die mich ins Krankenhaus. Ist das Haus abgeschlossen, was ist mit dem Hund, hat Gertrud Hans und Inge informiert, das Testament, wo war das? Im Sekretär, Gertrudchen weiß das bestimmt. Sterben, bitte nicht sterben. Und die Kinder. Hans ist versorgt, aber Inge und ihr endloses Studium. Mein Körper ist weg. Verschwunden, einfach weg. Das trieselt so schön, Junge, hast wohl versagt. Dr. Brügeler hat es schon vor einem halben Jahr gesagt. Die Wellen, der warme Sand. Gertrudchen, wenn Du da sitzt wird dein Rock nass. Ist dir egal, und mir auch. Küsst du mich noch ein letztes mal Gertrudchen. Hier an unserem Strand. im Sonnenlicht, Dein Haar so wunderschön. Küsst Du mich noch einmal.

“Defi, und weg, kannst aufhören, ist vorbei.”

Ich schwimme raus, in die Wellen, egal, immer weiter raus zum Horizont.

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